Über und Unter

Eine Aussage meiner Ärztin ist in mir hängen geblieben. Sie malte mit ihren Händen einen großen Kreis um ihren Kopf. Da oben sei es übermäßig ausgeprägt. Wortgenau weiß ich es nicht mehr. Doch demgegenüber sei es in anderen Bereichen unterentwickelt. Ich musste erst mal schlucken, ob der Wortwahl. Unterentwickelt. Ich bin unterentwickelt. Die Kränkung war dann doch schnell überwunden, doch diese Aussage arbeitete in mir.

Im Grunde hat sie recht, auch wenn ich mit der Wortwahl nicht zufrieden bin.

Mein Geist ist überentwickelt im Verhältnis zum Rest. Ich bleibe auf der theoretischen Ebene hängen. Mein Handeln, mein gelebtes Alltags-Ich ist dahingegen unterentwickelt.
Das interessante ist (und vielleicht wird es hier etwas klarer), dass ich meine Defizite, meine Einschränkungen, meine Herausforderungen schwer wahrnehmen kann. Ich kann mich im Alltags-Ich schwer greifen. Und das macht vielleicht auch Sinn, ist geradezu logisch, wenn die Theorie so weit weg davon ist und ich in dieser Theorie, weil sie überentwickelt ist, eher verankert bin.

So laufe ich also durch die Welt und weiß z.B. ziemlich viel über Ernährung, finde mich da sehr bewandert. Der Grund liegt darin, dass ich selbst damit einige Schwierigkeiten habe und mich deshalb dazu belesen habe. Wenn sich nun jemand mit mir über gesunde und ausgewogene Ernährung unterhält, unterhält er sich mit meinem wissenden Geist und bekommt wahrscheinlich den Eindruck, dass ich da auch in meinem privaten Leben voll den Durchblick habe.

Dieses Beispiel passt so gut, weil ich vor zwei Tagen zum ersten Mal mit Herrn Helfer darüber gesprochen habe. Über meine Ernährung und was daran schwer ist. Den Anlass dazu geben meine momentane körperliche Kraftlosigkeit, Schwächegefühle, zitternde Muskeln und Kreislaufprobleme. Die Ursachen sind schon erfasst. Es ist erstens zu wenig Substanz (53 kg) als Ausgangsbasis vorhanden und zweitens, wird zu wenig Energie zugeführt, um dem erhöhten Energieverbrauch (Arbeit) gerecht zu werden.
Ich habe es bisher noch nie in Worte gefasst und die Auffälligkeiten oder Hindernisse in einem Gespräch zusammen geholt. Sie verstreuten sich bisher am Rande meines Wahrnehmungsfeldes und ich kümmerte mich nicht allzu sehr darum. Gesammelt kam da folgendes zusammen, wobei nicht alle Erscheinungen immer gleichzeitig und durchgängig auftreten, sondern auch hin und her schwanken und sich abwechseln:
Mir ist oft übel. Manchmal ohne eine sichtbare Verbindung zum Essen, manchmal einsetzend während des Essens, manchmal bei der Vorstellung zu essen, manchmal vor Hunger und manchmal (oder immer) aus psychosomatischen Gründen und manchmal kann ich den Grund nicht mehr lokalisieren.
In solchen Übelkeitsphasen verknüpft sich wohl Hunger/Essen mit Übelkeit, was die Lust am Essen killt und schon die Vorstellung Abwehr erzeugt.
Ich bekomme keine Idee, kein Gefühl mehr zum Essen. Weiß nicht was mein Körper will und brauch, was ich kochen soll, worauf ich Lust habe.
Ich stehe im Laden, schaue all die Dinge an, die vielleicht noch vor zwei Wochen ganz von selbst zu mir gesprochen haben – nimm mich mit, ich will gegessen werden, mit mir könnest du dies und das machen – und fühle nur noch Ablehnung und Übelkeit. Nichts scheint mehr zu passen. So kann ich nicht ausreichend einkaufen.
Die Sachen die ich doch eingekauft habe liegen dann zu Hause. Ich habe einen Knoten im Kopf, daraus ein Essen zu kochen, komme nicht ins Handeln. Wahrscheinlich weil immer noch das Gefühl dazu fehlt.
Manchmal koche ich trotzdem. Dann kann es sein, dass beim Essen wahrgenommen wird, dass es doch passt (welch Freude) oder mir wird wieder schlecht. Ich hebe es bis zum nächsten Tag auf. Dann kann es wieder sein, dass mir schlecht wird und ich schmeiße es weg (die Suche beginnt von neuen) oder es schmeckt plötzlich doch.
Hunger spüre ich die meiste Zeit. Das treibt mich auch an und es gibt keinen Tag wo ich gar nichts esse. Würde ich nicht aushalten. Frühstück (Müsli) geht immer. Wenn ich selbst nichts umgesetzt bekomme, versuche ich irgendetwas außerhalb zu essen. Häufig führt das auch zu Schwierigkeiten, wegen irgendwelcher Lebensmittelzusätze die ich nicht vertrage oder der alt bekannten Übelkeit.

Spaß macht das nicht. Der Vorgang des Essens hat sein Leben verloren, ist zur leeren Geste geworden, weil es eben sein muss. Und es ist aufgrund der Hindernisse nie genug.
Es gibt auch andere Phasen. Ich kenne mich ebenso lustvoll und genussvoll essen, mit Freude kochen, reich an Phantasie und Intuition.

Als Lehre aus der letzten Phase des Mangels hatte ich mir einige Vorräte angeschafft, damit ich etwas da habe, wo ich nicht nachdenken muss. Einfach rein in den Topf und essen. Hat einige Situationen überbrückt, aber ist nährstofftechnisch nicht gut in meinem Inneren angekommen. Der Widerstand gegen Fertigprodukte gestiegen.

Ja, nun waren diese Vorräte aufgebraucht, ich erkannte die Ursachen meiner körperlichen Beschwerden, sah auch, dass ich so nicht arbeiten gehen konnte und befand mich gleichzeitig in einem Antriebs-/Schwächeloch, wo mir der Gedanke einkaufen zu gehen unschaffbar vorkam und landete schwups in einem so richtigen tiefen, heftigem Verzweiflungsanfall, dass alles nie wieder gut werden würde, es keinen Ausweg gibt.
Das half mir wiederum mir Hilfe zu holen und mal jemandem von diesem Dilemma zu erzählen, was wiederum dazu führte, dass ich es überhaupt einmal in seiner Breite wahrnahm, aus meinem Übergeist heraus.

Der neue Plan ist – wenn kein Impuls (Gefühl) aus mir kommt, dann muss ich (Geist) eben alles vorgeben, unabhängig von Lust und Laune. Also habe ich mir zwei Rezepte heraus gesucht. Damit stand dann auch fest was ich einkaufen muss und die Hürde des Kochens wurde auch gemeistert. Einmal habe ich mich beim Kochen unterstützen lassen, was immer gut funktioniert.

Darum ging es ja eigentlich nicht, sondern um die Über- und Unterentwicklung in mir.

Über Sprache und Worte aus meinem Geist kann ich Anderen indirekt Fähigkeiten von mir vermitteln, die ich selbst jedoch nicht wirklich mit mir ausfüllen kann. Ich erspreche, erdenke eine Version von mir, die es so jedoch nicht handelnd gibt. Oft komme ich mir subtil vor wie ein Lügner, als würde ich Menschen täuschen, ihnen etwas vormachen und hab keine Ahnung warum. Das könnte der Grund dafür sein. Diese zwei Realitäten in mir, noch mehr getrennt, als vereint. Der Graben zwischen Wissen und Handeln/Sein.
Scham. An dieser Stelle. Vor anderen Menschen. Scham, wenn auch andere sehen, dass das was ich sage, noch lange nicht das ist was ich bin. Das ein Bild von mir zerbröselt, wenn hinter die Worte in mein Leben geschaut werden kann. „Ach, so hab ich dich gar nicht eingeschätzt.“ „Das hätte ich mir bei dir nicht vorstellen können.“ „Das passt gar nicht zu dir.“ „Gestern hast du noch das und das gesagt.“
Davor habe ich Angst. Vor solchen Reaktionen und dass man sich dann von mir abwendet.

Hach… ist das schwer. Ist das schwer mich so disharmonisch anzunehmen.
Ich sehe mich als bleistiftgezeichnete Karikatur, mit einer riesigen Weltkugel als Kopf (keine Ahnung warum gerade eine Weltkugel 😉 ), der auf Grund des Gewichts vor und zurück schwankt, schwer ihn zu halten. Darunter ein dünner Strichmännchenkörper mit durchgeknackstem Bein. Der Kopf kann den überforderten Körper nicht wahrnehmen, weil er zu groß ist, um nach unten zu schauen. Er plant dann Dinge, die nicht zum Rest passen und ist massiv enttäuscht über das empfundene Scheitern.
Mein Denken, Fühlen, Handeln läuft oft nicht synchron. Es entstehen Unstimmigkeiten. Das geht auf meine Kosten und auch auf Kosten anderer. Ich bemühe mich aus einer Einheit zu leben. Es gelingt mir nicht immer, sind doch die Startbedingungen schwierige.
Ich will mir verzeihen, wenn ich dadurch andere verletze und mich selbst. Es tut mir ernsthaft leid.

Der Verstand ist wichtig, der Verstand ist lebensnotwendig.

Ein Verstand losgelöst aus der Gesamtheit von Körper, Geist und Seele führt zum Ungleichgewicht, mit den unterschiedlichsten Auswirkungen.

Wellengang – auf und ab

07.01.2015

Heute hatte ich einen Weiter-weg-Blick auf mein gesamtes aktuelles Leben.

Da war eine kleine Beschäftigungsstelle, von der ich vor 2 Monaten noch nicht zu träumen wagte.
Da war ein Ort der zwanglosen, nicht zu nahen Begegnung, wie ich es mir so oft ersehnt hatte.
Da war ein Hr. Helfer, der mir so unglaubliche Selbsterfahrungen und –erkenntnisse bescherte, womit ich niemals gerechnet hätte.
Plötzlich besuche ich auch eine DBT-Gruppe, wo ich schon seit 2011 geahnt habe, dass das etwas für mich sein könnte.
Dazu eine tolle Ärztin. Auch eine Therapie, die ich eigentlich nicht mehr bräuchte, weil ich gewachsen bin.
Eltern die noch leben. Und wertvolle Herzverbindungen.

Soviel Unterstützung und Entwicklung.
Eine tiefe Welle der Dankbarkeit ergriff mich.

 

10.01.2015

Gestern das Gespräch mit Herrn Helfer und der neuen Frau, die die Hilfe evtl. übernimmt, gehabt, bei denen im Büro.

Es war krass. Krass wie ich mich gefühlt habe, was da alles hoch kam. Krass so gesehen zu werden, sich so offen zu zeigen. Da waren unglaubliche Kämpfe und widersprüchliche Gefühle in mir und alle wurden ausgesprochen, aber als Gefühl versucht massiv zurückzuhalten. Krass für mich vor anderen so kindlich zu werden, unsicher, Kontrolle verlieren, nicht mehr sprechen können, weil eine Panikattacke bekämpft wird. Herr Helfer spricht für mich weiter – ebenso krass. Jemand unterstützt mich – Konflikte, Konflikte im Inneren – einer nach dem anderen.
Es wird verstanden, dass wenn ich mich verlassen fühle, dann noch nach Rückversicherungen frage. Ich selbst kann es in dem Moment gar nicht verstehen. Nehme nur wahr, dass ich so bin und schäme mich in Grund und Boden. Vor dieser Frau, die ich gar nicht kenne und die das alles sieht, so viele Fragen stellt. Ich fühle mich in die Ecke gedrängt. Gebe Antworten, die mir im nächsten Moment falsch vorkommen, unvollständig. Weitere Konflikte in mir. Puhhh…

Heute zu Hause überrollt mich dann die Erkenntnis. Plötzlich sehe, fühle ich ganz klar, wie ich meine Gefühle vor anderen ablehne. Wie stark ich mich ablehne, wenn jemand dabei ist. Besonders die alten, schwachen, kleinen, ängstlichen, unsicheren Gefühle.

Im Gespräch sagte ich auch, dass ich das voll übertrieben fände, zusätzliche Rückversicherungstelefonate mit Herrn Helfer. Danach, dass es hilfreich wäre. Hin und her. Wahnsinn. Ich war so fertig danach. Habe erst als ich zu Hause wieder ankam, gemerkt, dass das was Heftiges war. Meine Arme und Hände fingen an zu kribbeln (die zurückgehaltene Panikattacke) und dann lösten sich die Stress-/Angsttränen und ich sah’s weinend im Bad. Es wimmerte die ganze Zeit, diese Veränderung nicht zu wollen, nicht zu können usw..

Das ist eine unglaubliche emotionale Herausforderung.
Und es kommt mir immer noch fremd vor, dass ich so bin, dass das wirklich ich bin. Das ich all diese Gefühle habe. Da hänge ich noch im alten Ich, welches mit so etwas nichts zu tun hatte. Da spalte ich heftig ab.

Habe mir in der Meditation gesagt, dass ich mich auch damit liebe. Bin in Tränen ausgebrochen und die Antwort war “das kann ich dir gar nicht glauben.” Ist trotzdem was angekommen. Bin mir näher gekommen.

 

15.01.2015

Dieses Gespräch hat Türen aufgerissen. Übermäßige Angstreaktionen in Situationen die eigentlich schon angstfrei waren. Weinerlich. Geringe Stresstoleranz. Versorgungsprobleme.
Alles zurückgefahren. Arbeit abgesagt. Fällt mir schwer. Gefühl wieder bei null anzufangen. Körper macht schlapp. Herzflattern, Schwindel, zittrige Beine. Schwächemomente.
Lyrica ausprobiert. Hat sehr starken Suchtdruck ausgelöst. Wieder abgesetzt. Schade. Hatte gehofft, damit die Ängstlichkeit etwas zu mildern.

Mit der Realität kämpfen – so aktuell wie eh und je. Ziele, Wollen loslassen und das Jetzt annehmen bleibt wohl immer eines meiner eher herausfordernden Themen. Meditation hin oder her.