Was soll man da machen…

Ich rufe heute meinen Opa an, weil mir danach ist, mich wieder mal zu melden.

Er hält mir zum x-ten Mal vor, warum ich mich nicht auf Anrufe von ihm melde. Er ruft zu allen Feiertagen an und spricht mir meist auf Band.

Ich erkläre zum wiederholten Male, dass ich ihn anrufen möchte, wenn ich es will und nicht weil ein Feiertag es vorgibt.

Er erzählt mir von seinem Ärger, dass ihn kaum einer aus der Familie anruft. Ich weiß um seine Traurigkeit und seine Einsamkeit.

Ihm ist es egal, ob ich nur aus Pflicht zurückrufe. Dann wäre er einfach auf dem aktuellsten Stand, sagt er.

Mir zieht sich alles zusammen, wenn ich daran denke, seinem Wunsch nachzukommen. Als wäre ich für seine Gefühle verantwortlich. 

Unsere Beziehung war nie näher und häufiger. Wir haben auch nicht unbedingt einen guten Draht zueinander. Eigentlich kennen wir uns nicht besonders gut.

Andererseits habe ich Mitgefühl für seinen Wunsch nach Nähe zur Familie.

Hach ja…

Die Frage wäre, möchte ich mehr Kontakt? 

Die unsinnige Sache mit der Schuld

Wow, was war das denn!
Das Telefon klingelt. Ich liege noch im Bett. Ich höre die Stimme meines Opas Ostergrüße aufs Band sprechen. Mein schlechtes Gewissen klopft an meine Stirn.

Mein Opa und meine Stiefoma. Sie leben nicht in der näheren Umgebung. Schon immer weiter weg, auch in meiner Kindheit. Ach verdammt… ich müsste mich da viel regelmäßiger melden. Mein Opa ist hartnäckig. Spricht Feiertag für Feiertag Grüße auf mein Band oder schickt eine Postkarte. Viel Futter für mein schlechtes Gewissen. Die Stimme der Eltern im Kopf, heute wie damals. Ruf da an und sag danke schön. Das macht man so. Das ist Höflichkeit. Melde dich doch mal bei deinen Großeltern. Du kannst deine Großeltern auch besuchen fahren. Und auch sie selbst weisen mich in langen Abständen immer wieder darauf hin. Jedes Mal zieht sich alles in mir zusammen und ich fühle – ich will nicht.

Also wieder ein Anruf auf meinem Band und die gefühlte Aufforderung, du musst zurückrufen und dich dafür bedanken. Den letzten Anruf, ich glaub zu Weihnachten?, hab ich unter den Teppich fallen lassen. Wollte einen Brief schreiben, aber hab es dann vergessen oder auch nicht gewollt. Gewolltes Vergessen. Jetzt muss ich aber. Nochmal keine Reaktion, macht das schlechte Gewissen zu einem Monster, welches mich auffrisst.

Ich liege immer noch im Bett. Meine Gedanken laufen. Vielleicht hängt ja auch mein Opa in dieser man-muss-ja-Schleife und ruft nur aus einem Verpflichtungsgefühl so regelmäßig an? Vielleicht ist das auch etwas, was er hinter sich bringt und froh ist, wenn es vorbei ist? Interessanter Gedanke. Das muss ich ihn mal fragen. Dann könnten wir uns das beide einfach sparen. 🙂

Und ist es ihm eigentlich zu wenig, unser Kontakt? Ein Anruf und ein Brief im Jahr? Oder reicht ihm das vielleicht? Ist er traurig? Wünscht er sich mehr? Er hat auf meine zwei Briefe nicht geantwortet. Wie ist unsere Verbindung? Es hat doch auch einen Grund, warum ich mich nicht mehr melde, warum ich kein Bedürfnis habe zu Besuch zu fahren. Unsere Verbindung war von meiner Seite aus nie nah. Liegt vielleicht auch an der Entfernung. Liegt vielleicht auch an dem Menschen selbst, der er ist.
Okay, heute werde ich zurück rufen und ihm genau diese Fragen stellen. Ich stehe auf. Nehme das Telefon. Schwitze und zittere. Tippe vor Aufregung nur die halbe Nummer ein. (Wie in Träumen, wo ich nie die richtigen Tasten treffe) Geh dann doch erst mal auf Toilette. Atmen. Erneuter Versuch. Richtige Nummer. Opa ist am Telefon. Starte mit den üblichen Floskeln – danke für die Grüße und so – und gehe dann gleich in die Vollen.

„Ich wollte dir ein paar Fragen stellen, die uns betreffen und wünsche mir ehrliche, offene Antworten. Ich melde mich ja nicht so oft. Wie ist das für dich?“

Den genauen Wortlaut bekomme ich nicht mehr zusammen. Das ist nur angelehnt.

Er scheint sehr überrascht, über diese Frage und weicht erst mal aus. Ich stelle die Frage dann noch mal.
Er: „Ach, das ist in der ganzen Familie so. Wenn ich mich da nicht melde, dann kommt nichts zurück. Du bist ein Teil dieser Familie.“
Ich, schmunzelnd: „Du glaubst also, dass liegt in unseren Genen?“
Er, lachend: „Ja, genau.“
Ich: „Aber heißt das, du hast dich daran gewöhnt und es ist okay für dich?“
Er: „Jein. Jein. Ich würde es schon schön finden, wenn man mal zu Feiertagen oder zu meinem Geburtstag an mich denkt.“
Ich: „Weißt du, meine Verbindung zu dir ist nicht sehr nah. Früher auch schon nicht. Deshalb kommt bei mir nicht so oft das Bedürfnis mich zu melden. Nun habe ich gehört, dass du dir z.B. zum Geburtstag Anrufe wünschst. Das sind für mich so feste, vorgegebene Termine die mit einem Verpflichtungsgefühl verbunden sind. Ich möchte dich nicht anrufen, nur weil ich das Gefühl habe ich muss. Was aber nicht heißt, dass ich euch nicht leiden kann.“
Er: „Das verstehe ich.“ (eine für mich völlig unerwartete Antwort!)
Ich: „Ich möchte mich melden, wenn mir danach ist, wenn ich es will.“
Er: „Aber du brauchst Impulse. Sonst würdest du doch gar nicht anrufen?“
Ich: „Ja, das stimmt. Oder nein, ich hab auch vor ein paar Monaten mal von mir aus daran gedacht und mich dann nicht getraut. Warum auch immer.“
Er: „Du brauchst doch vor mir keine Angst haben.“
Ich, lachend: „Ja, das weiß ich doch. Ich hatte wohl Angst davor wie es wird, ob wir uns verstehen.“ (Erst nach dem Telefonat habe ich begriffen, dass ich Angst vor meinem eigenen Schuldgefühl hatte, welches dann spürbar geworden wäre mit einem Kontakt.)
Er: „Du, wenn ich was nicht verstehe, frage ich nach.“ (So war das zwar nicht gemeint, aber okay… :))
Ich: „Und auf meine Briefe hast du nicht geantwortet, weil Schreiben nicht dein Ding ist?“
Er: „Genau richtig.“

Dann sind wir in ein allgemeines Gespräch übergegangen, wie es uns so geht.
Ich sprach dann noch kurz mit meiner Stiefoma. Sie hatte von dem Telefonat vorher nichts mitbekommen und lud mich wieder zu einem Besuch ein. Ich wollte aus alter Gewohnheit erst irgendeinen Grund vorschieben, wie kein Geld oder so und sprach dann aber auch ihr gegenüber aus, das mein Bedürfnis nicht so stark ist, weil ich ihnen nicht so nah bin. Und auch sie, ich kann es kaum fassen, hat dafür Verständnis, begründet es mit der großen räumlichen Distanz, die schon immer da war.

Ich erzähle ihr noch von der anstehenden Reha und das dann meine Wohnung hier frei wäre, falls sie einen Stadturlaub machen wollen. Sie freut sich. Findet das eine gute Idee. Und so endet dieses Telefonat in guter Stimmung.

Ich bin so perplex, dass ich erst mal gar nichts fühle und sehr neben mir stehe. Wie kann es sein, dass man sich über Jahre und Jahrzehnte mit Gefühlen aller Art plagt und in einem einzigen Telefonat alles bereinigt wird? Wieso bekommt man als Kind nicht beigebracht, zwischenmenschliche Dinge anzusprechen und zu klären? Wieso bekommt man als Kind nicht beigebracht, dass es wichtiger ist auf sein Herz zu hören und die Gründe für sein Handeln zu verstehen und zu vertreten, als äußeren Regeln blind zu folgen. Ich wurde speziell in diesem Fall ganz offensichtig zu Schuldgefühlen erzogen. Das hätte gar nicht zwangsläufig so sein müssen.

Da kommt mir die Frage – ist jedes Schuldgefühl anerzogen? Hätten wir von Natur aus gar nicht solch ein Gefühl?

Öffnung in alle Richtungen

Ich liege heute Morgen im Bett, resümiere den gestrigen Tag und bin schwer beeindruckt, was sich da alles in mir bewegt hat. Innere Arbeit kann so aufregend, spannend, vielfältig, bewegend, erweiternd, anstrengend und nährend sein (und bestimmt noch mehr). Würde mich jemand fragen was ich den gestern so gemacht habe, ist das völlig unspektakulär. Ich war bis zum späten Vormittag zu Hause und habe nichts getan außer kochen, essen, am PC sitzen, auf der Couch liegen, um dann abends zum Yoga zu gehen und danach zum Geburtstag meiner Oma.

Was sich in meinem Inneren am Vormittag bewegt hat steht schon hier.

Ich war zwei Wochen nicht beim Yoga. Diesmal war alles sehr ungewöhnlich, im Vergleich zum letzten Mal und überhaupt davor.

Mein Körper fühlte sich schwimmend an, nicht stabil, mir war die meiste Zeit übel und schwindelig. Daneben gab es eine neue Art der Ruhe, aus der heraus ich alles dies betrachtete. Ich machte mir keine Sorgen darüber wie es sich anfühlte und fühlte gleichzeitig sehr präsent.

Ich erkannte meistens sehr schnell, wenn ich etwas wollte, was aber im Moment nicht ging und begegnete mir dort mit einer ungewohnten Weichheit, was ein Loslassen möglich machte. Auch neu dabei war, dass dann kaum Angst entstand, dass der Lehrer eingreifen würde, wenn ich nicht tue was er sagt.

Die nächste Überraschung war dann, als meine Beine doch tatsächlich für kurze Zeit in der Übung des schlafenden Tigers alleine getragen wurden. Das erste Mal in einem Jahr und zehn Monaten. Ich habe mich völlig frei in diese Position begeben. Kein Wollen, kein Suchen, kein Ziel, keine Angst zu scheitern, es nicht zu schaffen. Und ich fühlte ein Vertrauen in meinem Bauch, welches vorher so noch nie da war. Der Moment war kurz, doch er war da und unglaublich schön. Das sind diese Momente immer, schön… wie eine Erleuchtung, wenn  man etwas findet (oder gefunden wird), wonach man aufgegeben hat zu suchen.

In der Abschlussmeditation fühlte ich mich mir selbst gegenüber ganz unbekannt. Ein sehr merkwürdiges Gefühl. Wer bin ich eigentlich? Wie als wenn ich aus dem was ich war herauswachse, die Fäden der Vergangenheit, die mich lenken, einen nach dem anderen kappe und sich damit auch mein Selbstgefühl verändert. Die Vergangenheit verliert ihren Einfluss, zieht sich langsam aus dem was man ist zurück, trennt sich von mir. Es bleibt ein Gefühl mir selber fremd zu sein oder besser, mir selber neu zu sein. Mich selbst noch nicht zu kennen. Sehr merkwürdig. Mit dem Öffnen der Augen hat sich das etwas gelegt.

So, und dann der Geburtstag. Wow, so hab ich mich noch nicht erlebt. Ich fühl mich den meisten Familienmitgliedern fremd und fern, auch meinen Großeltern. Mit meinem Opa habe ich noch nie ein offenes Gespräch auf Augenhöhe geführt. Wir steckten wohl beide immer in unseren Rollen fest. Diesmal war alles anders. Er bat mich, mich zu ihm zu setzen, neben ihn auf die Couch. Ich saß ganz nah. Wir berührten uns auf ganzer Linie. Er nahm meine Hand und hielt sie fest, auch mal mit beiden Händen. Oder er legte seinen Arm um meine Schultern und strich mir mit der Hand über meinen Hinterkopf. Sein Gesicht war so dicht an meinem, dass ich eigentlich immer nur in ein Auge sehen konnte. Sein Atem berührte mein Gesicht, schwer und süß vom Alkohol. Das ist etwas, was ich sonst nicht ertragen hätte und hart, verschlossen und zurückgezogen reagiert hätte, mit absolutem Fluchtimpuls. Doch diesmal tat sich alles in mir auf. Mein Herz war offen. Ich spürte Nähe, ehrlich Worte und konnte all das zulassen und zurückgeben. Ich konnte ohne Hemmungen in seine Augen schauen, ebenso seine Hände halten, meine Hände auf sein Bein legen. Es floss Zuneigung hin und her. Ich war so berührt. Alte Geschichten tauchten auf (ich war überrascht, was immer noch in seinem Kopf dazu geblieben ist). Das erkennen in uns, dass wir noch nie so gesprochen haben. Zuhören. Recht geben. Schuld nehmen. Ich fing vor Emotionalität an zu zittern.

Er bat mich Kontakt zu meiner Oma aufzunehmen. Sie mache sich Sorgen. Sie höre so wenig von mir und traue sich nicht mich anzurufen. Könne das aber selbst nicht zeigen. Sie würden vielleicht nicht mehr lange leben. Auch hier musste ich nicht in die Abwehr gehen. Ich konnte zulassen, dass andere sich um mich sorgte, ohne mich verantwortlich oder verpflichtet zu fühlen. Auch für meine Oma tat sich mein Herz auf.  Ich konnte sie wahrnehmen in ihrer Sorge und hatte das Bedürfnis sie in den Arm zu nehmen. Ich bat sie später zu mir, so dass uns niemand sah. Und da sie von dem Gespräch und meinen Empfindungen mit meinem Opa nichts mitbekommen hatte und mir so auch Worte fehlten, fragte ich sie einfach, ob ich sie mal in den Arm nehmen dürfe. Sie war völlig irritiert und konnte nicht auf mich zukommen, so neu war die Situation (auch für mich). Ich nahm sie trotzdem sanft in den Arm und sagte, dass ich gerade keine Worte hätte, aber Opa mit mir gesprochen hat und ich die nächste  Tage mal zum Kaffe vorbei kommen will, um mich in Ruhe ohne Familientrubel auszutauschen. Sie blieb sehr sachlich und gefasst.

Ich bin gespannt auf dieses Treffen und habe auch ein bisschen Angst, weil ich die Wahrheit sprechen will. Die Wahrheit ist, dass ich mich in der Vergangenheit dieser Familie nie nah gefühlt habe und aktuell sich darin etwas verändert. Die Wahrheit ist, dass es nicht meine Aufgabe ist, ihr ihre Sorgen zu nehmen. Und das sie jederzeit den Kontakt suchen kann, wenn sie wissen möchte, wie es mir geht (hat sie bisher nie getan). Ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn meine Oma in der Lage wäre, auch über ihre Empfindungen unsere Beziehung betreffend sprechen könnte. Ich glaub nicht so richtig daran, aber mal sehen.