Heilung kann nicht gewollt werden

Ich liege im Bett. Der Morgen ist schon Tag geworden. Ich fühle mich nebelig im Kopf. Und vermute, dass die Ereignisse von gestern noch wirken, sich mein System noch neu zurechtrücken möchte.

Und gleich will ich mehr.

Es war so erfolgreich! Fühlte sich so befreiend und befriedend an. Erlösung von Schuld. Einkehr in Gnade und Liebe.

Die Ahnengeschichte an dieser Stelle endlich geklärt, durch ein Telefon mit M., einer Heilerin.

Ich bin so dankbar! War ich doch zum Ende ratlos und sehr belastet davon. Fand keine Lösung und auch keinen Abstand mehr dazu. Es wollte Klärung.

M. hab ich seit einem Jahr nicht mehr gesprochen. Misstrauen meinerseits, dass Heilversprechen nicht gehalten werden.

Heute hier im Bett sehe ich, dass viele meiner Vorstellungen von Unwissenheit, von fehlenden Erfahrungen, von zu hohen Erwartungen an den Begriff Heilung geprägt waren.

Das Ergebnis – Enttäuschungen. Ziemlich viele. Meine Erwartungen waren groß.

Das rutschte auf die Beziehungsebene. Ich vertraute ihr nicht mehr. Ich mied den Kontakt, um mich vor weiteren Enttäuschungen zu schützen.

Ich liege im Bett und fühle wieder diese Anziehung. Heilung ist geschehen. M. hat Heilung herbeigeführt. Also brauche ich viel Kontakt zu M. und alles wird wieder gut, alles kann geklärt werden.

Gut das der große Knoten der Enttäuschung noch in mir sitzt und mich erinnert – so funktioniert Heilung nicht.

Ich lasse das Wollen los, verbinde mich mit dem viel größeren Leben und formuliere neue Gedanken. Ich vertraue mich dir an. Du wirst mir zeigen, wann eine Zeit ist, mir wieder von M. helfen zu lassen.

Und plötzlich fühle ich eine neue Haltung, um mit M. in Kontakt treten zu können. Anstatt über das Wollen und Erwarten von Heilung, mit der Folge des Enttäuschtseins, mich der Entwicklung zu überlassen, die möglich ist.

Was möchte hier und heute erlöst werden? Was kann gehen? Wofür ist die Zeit reif?

Akzeptanz des Nicht-Wissens. Das Heilung seiner eigenen Zeit und Logik folgt.

Letztendlich ist es ein Mysterium, wo ich nichts weiß über das Wann und Wo.

Und Vorstellungen mal so richtig daneben liegen können.

Ich fragte M., ob sie sich auch mal irrte, die Informationen die sie vermittelt bekäme, nicht immer stimmten, weil ich das vermutete.

Es kämen die Informationen, für die der Empfänger bereit wäre und das ist dann nicht immer gleich die ganze Wahrheit, wenn die noch nicht verkraftet werden kann.

Das trifft für mich zu. 2014 hätte ich es noch nicht verkraftet. Dieses Jahr war es auch nicht ohne, von der Familiengeschichte zu erfahren, doch es war die ‚richtige‘ Zeit.

Das heißt in diesem Fall, auch der Heiler selbst bekommt nicht immer die Wahrheit zu sehen, sondern sieht nur das, für das die Zeit reif ist.

Ich bin nicht immer für dich da

Das ist der Teil, den ich dir mitgeben möchte. Meinen eigenen Anteil an dem Schmerz zwischen uns, habe ich zu mir genommen. Es ist jedoch nicht alles meines. Etwas gehört auch zu dir.

Damit deine Worte, deine Taten und deine Gefühle übereinstimmen, müsste es heißen: „Ich wäre gerne immer für dich da, aber ich kann es nicht immer sein.“

Dann ist es für mich stimmig. So nehme ich dich wahr, unser Miteinander in meiner Krisenzeit. So entsteht für mich kein Widerspruch mehr, zwischen deinen Worten und deinen Taten.

Mit dieser Wahrheit, die ich sehr realistisch finde, kann ich besser leben, als mit einem stetig gefühltem Widerspruch, einem Versprechen, welches nicht gehalten wird.

Weil, so ist es nun mal. Es ist unmöglich für dich, für alle deine Freunde immer da zu sein, physisch da, auch wenn es das ist, was du fühlst und gerne geben möchtest. Es wird immer vorkommen, dass du abwägen musst, zwischen dem Einen und dem Anderen oder auch zwischen dir und dem Anderen. Es gibt deine Belastungsgrenzen, es gibt Dinge die dir in deinem Leben wichtiger sind, es gibt Prioritäten zu setzen. So wie du dich für den Menschen entschieden hast, bei dem du gerade warst, als ich dich nach Begleitung in die Notaufnahme fragte.

So ist das nun mal.

Es ist vielleicht nicht leicht sich das einzugestehen, weil man es so gerne anders hätte. Das kenne ich aus eigener Erfahrung und an dieser Stelle lerne ich ebenso von dir.

Es ist jedoch viel ehrlicher, dir selbst gegenüber und deinen Freunden gegenüber.

Für mich ist damit mein Herz bereinigt und die Sache überstanden.

Das Leben endet

Sterben. Das Thema verfolgt mich. Seit dem eine Freundin von mir an Krebs erkrankt ist.
Erfolgreich behandelt.
Doch immer steht das Thema einer Wiederkehr im Raum. An Krebs zu sterben, steht im Raum. Unausweichlich. In mir selbst, fast schon als Wahrheit. Als würde ich mich seit dem versuchen darauf einzustellen, vorzubereiten. Dass das passieren kann. Das ein Mensch sterben kann. Ein Mensch den ich kenne. Der mir nah ist.

Ihre Angst begleitet sie und mich.
Sie unmittelbar. Todesangst. Mal mehr, mal weniger nah. „Ich will nicht sterben“, sagte sie einmal. Und dieser Ausdruck in den Augen. Hilflosigkeit. Nackte Panik.
Und ich? Ich fühle keine Angst, außer ihre Angst.
Ich fühle eher Gewissheit. Wenn es kommt, dann kommt es, ob sie will oder nicht, ob ich will oder nicht. Ich habe immer wieder den Drang, ihr das zu sagen. Fühle mich jedoch unsensibel und herzlos dabei. Frage mich, ob es meine eigene Abwehr des Themas ist, dass ich so denken kann.
Ihre Angst wehre ich nicht ab. Sie ist natürlich, verständlich und nicht zu umgehen. Ich warte regelrecht darauf, dass sie sie einmal so richtig durchlebt und aufhört, gegen sie zu kämpfen. Vielleicht ist es das, was ich ihr eigentlich sagen will. Erst wenn ich den Gedanken an den Tod zulassen kann, kann ich der Angst die darauf folgt begegnen.

Morgens im Bett. Ich male mir den Gedanken aus. Ich sterbe. Wie wäre das, wenn ich das wüsste. Spontane Gefühlsreaktion ist Vorfreude. Wie ein Ereignis, auf das sehnsüchtig gewartet wird. Interessant. Das ist neu. Ich leide momentan nicht unter meiner Existenz. Also keine Reaktion aus den Umständen heraus. Vielleicht habe ich einfach wirklich keine Angst zu gehen. Es fühlt sich so verdammt normal an.

Würde ich irgendetwas anders machen, wenn ich wüsste ich hätte nicht mehr viel Zeit?
Klar! Ich würde in meinem Umfeld, um finanzielle Unterstützung bitten und überhaupt versuchen, soviel Kohle ran zu bekommen wie geht, damit ich noch so viel Zeit wie möglich in der Natur verbringen kann, mir selbst nah und ich würde so oft wie möglich mit Menschen zusammen sein wollen, die mir nah sind und gut tun.
Und gerade tut sich das Bedürfnis auf, ganz viel Liebe verteilen zu wollen, an gewisse Menschen, zu denen ich keinen Kontakt mehr habe. Hab da eben mal eine E-Mail verschickt. Muss ich nicht warten, bis der Tod nah ist.

Ansonsten habe ich das Gefühl, dass ich schon ziemlich nah am authentisch leben bin, also nicht mehr allzu viel verändern würde.
Vielleicht würde der innere Druck der Behörden wegfallen, irgendetwas zu ‚müssen‘. Vielleicht würden mir auch so einige Gesetze/Regeln egal werden, wie zum Beispiel Gelder beim Jobcenter anzugeben.

Wenn ich jetzt sterben würde, hätte ich auch nicht das Gefühl, irgendetwas verpasst zu haben. Die letzten Jahre waren so intensiv. Ich habe unglaublich viel erlebt, ausgelebt, über mich erfahren. Bin mir tief begegnet. Habe viel geklärt. Meine ganzen Beziehungen, zu den Eltern, Großeltern, Freunden sind ins rechte Licht gerückt, authentischer, echter geworden. Was nicht mehr gepasst hat, hat sich entfernt.
Und ich darf jetzt, noch ganz frisch, eine wunderschöne, mir bisher unbekannte Art von Freundschaft erleben. Sich wahrhaftig zu begegnen ist ein Geschenk.

Ich habe so viele gute Dinge erlebt. Mein Traumurlaub, Indian Summer in Kanada. Die Kanureisen in Schweden. Das verspätete Entdecken meiner Sexualität (auch wenn die jetzt wieder eingeschlafen ist 🙂 ). Das Entdecken des Lebens ohne Rauschmittel. Das Entdecken des Lebens mit Rauschmitteln. Das Entdecken von emotionaler Tiefe und Vielfalt. Das Entdecken von bedingungsloser Liebe. Das Entdecken von bedingungslosen Glückzuständen. Das Erleben von Gefühlen geliebt zu werden, unterstützt zu werden, einfach weil man da ist. Umarmungen zulassen und spüren können. Nähe. Nähe zu Kindern. Nähe zu Hunden. Nähe zur Natur. Nähe zu Menschen. Kreativität. Verspieltheit. Ein erster Arbeitsplatz unter Idealbedingungen. Mich nie lange und groß für irgendetwas bewerben müssen, da immer schnell ausgewählt.
So betrachtet, fühle ich mich wie ein Glückskind. Was will ich da noch mehr. Alles Weitere ist Bonus. 🙂

Das Leben loslassen. Vielleicht ist es dann doch nicht so leicht, wenn der Tod real wird, den Raum der Vorstellungen verlässt. Wer weiß.

Platz daaa!

Notizen vom 02.05.2015

Mein Vater hat ein jedes „ich will“ als Angriff, als ein Infrage stellen seiner Person empfunden. Es scheint so, als ob er keine weitere Kraft neben sich ertragen konnte, als ob er immer das Gefühl brauchte, ganz oben auf zu sein. Und von dem was er mir so von sich erzählte, scheint eine Bedrohung seiner Autorität für ihn eine existenzielle Bedrohung gewesen zu sein, verbunden mit Ohnmachtsgefühlen.

Erstaunlich! Ich sehe es plötzlich ganz klar, wie sich alles bedingt, miteinander verkettet ist.

Ich kam darauf, weil ich seit einigen Monaten mein eigenes, kräftiger werdendes „ich will“ spüre. Oft auf eine kindliche, trotzige Art. Auf eine kindliche, verzweifelte Art, wenn es darum geht, das jemand da sein soll, das Nähe, Kontakt nicht genug ist.

In der Therapie wurde das mal mit einem Kind vor dem Süßigkeitenregal an der Kasse verglichen. Es wirft sich heulend, verzweifelt auf den Boden, strampelt und muss mit seinem „ich will aber“ klar kommen.

Ich finde das gut, dieses „ich will“ in mir. Ich glaube, das ist der Zugang zu meiner Kraft, zu meinem Potenzial, zu einem aktiven, vorwärtsschreitendem Leben.

Das hatte ich als Kind nicht. Ich hatte nichts zu wollen. Ich hatte auch keine Pubertät-Wut-Ablöse-Phase gehabt. Von was denn Ablösen, wenn man nichts hat, was man als Eigenes empfindet und verteidigen will. Ich konnte nicht lernen mit meiner Kraft umzugehen, weil ich sie nicht empfunden habe. Ich konnte mit ihr keine Erfahrungen sammeln. Ich konnte sie nicht ausdrücken. Mein „ich will“ wurde sofort gebrochen, als es in Erscheinung trat.

Das hält klein. Das hält abhängig. Andere entscheiden für mich. Andere geben vor, was ich zu wollen habe. So bin ich durchs Leben gelaufen. Eine ganze lange Ewigkeit. Ohne Ziel, ohne Ausrichtung, ohne treibende Willenskraft. Der jahrelange Drogenkonsum unterstrich das Ganze noch mal.

Seit einiger Zeit fühle ich sehr stark diese gewaltige, schlummernde Kraft in mir. Es fühlt sich gut an. Es fühlt sich wirklich verdammt gut an! Es fühlt sich nach kraftvollem Schreien an. Nach Kampfgeschrei. Es fühlt sich nach festem Körper, der vorwärtsschreitet an. Nach Aufgerichtet sein. Nach klaren, offenen, nach vorne gerichteten Augen. Nach Mut. Nach Lebensausdruck und auch nach Lebenslust. Und es fühlt sich ganz eindeutig auch nach Macht an.

 

Nachtrag 15.05.2015

Das habe ich einen Tag nach der Heil-Behandlung bei Manuela geschrieben. Ich fand es an dem Tag ganz erstaunlich, ein Gefühl von Lust auf Machtausübung zu spüren. So etwas hatte ich vorher noch nie gefühlt. Und es passte für mich als Auswirkung der Behandlung, da wir auch Energie in viele vergangene Situationen des ausgeliefert-seins geschickt haben. Als wäre ich auf den gegenüberliegenden Pol dieses Gefühl gesprungen.

Das Gefühl von Ärger, Aggression und Wut ist definitiv seit diesem Termin gewachsen. Qualitäten die ich aus meinem Leben kaum kenne. Es ist sehr herausfordernd und nicht leicht damit umzugehen. Auf der anderen Seite macht es aber auch Freude, weil ich weniger Angst vor Reibung in zwischenmenschlichen Dingen habe. Ich spüre schneller meinen Ärger, wenn ich mich nicht gesehen fühle oder nicht verstanden und kann es so auch schneller klären. Es ist interessant, weil ich auch merke, wie gut solche Sachen zu klären sind. Ich fühle mich irgendwie forscher. Nicht mehr so überängstlich abgelehnt zu werden. Trete etwas mehr nach außen auf.

Und ich empfinde mein „ich will“ nicht mehr als so kindlich, sondern eher als dominant und stark.

Die unsinnige Sache mit der Schuld

Wow, was war das denn!
Das Telefon klingelt. Ich liege noch im Bett. Ich höre die Stimme meines Opas Ostergrüße aufs Band sprechen. Mein schlechtes Gewissen klopft an meine Stirn.

Mein Opa und meine Stiefoma. Sie leben nicht in der näheren Umgebung. Schon immer weiter weg, auch in meiner Kindheit. Ach verdammt… ich müsste mich da viel regelmäßiger melden. Mein Opa ist hartnäckig. Spricht Feiertag für Feiertag Grüße auf mein Band oder schickt eine Postkarte. Viel Futter für mein schlechtes Gewissen. Die Stimme der Eltern im Kopf, heute wie damals. Ruf da an und sag danke schön. Das macht man so. Das ist Höflichkeit. Melde dich doch mal bei deinen Großeltern. Du kannst deine Großeltern auch besuchen fahren. Und auch sie selbst weisen mich in langen Abständen immer wieder darauf hin. Jedes Mal zieht sich alles in mir zusammen und ich fühle – ich will nicht.

Also wieder ein Anruf auf meinem Band und die gefühlte Aufforderung, du musst zurückrufen und dich dafür bedanken. Den letzten Anruf, ich glaub zu Weihnachten?, hab ich unter den Teppich fallen lassen. Wollte einen Brief schreiben, aber hab es dann vergessen oder auch nicht gewollt. Gewolltes Vergessen. Jetzt muss ich aber. Nochmal keine Reaktion, macht das schlechte Gewissen zu einem Monster, welches mich auffrisst.

Ich liege immer noch im Bett. Meine Gedanken laufen. Vielleicht hängt ja auch mein Opa in dieser man-muss-ja-Schleife und ruft nur aus einem Verpflichtungsgefühl so regelmäßig an? Vielleicht ist das auch etwas, was er hinter sich bringt und froh ist, wenn es vorbei ist? Interessanter Gedanke. Das muss ich ihn mal fragen. Dann könnten wir uns das beide einfach sparen. 🙂

Und ist es ihm eigentlich zu wenig, unser Kontakt? Ein Anruf und ein Brief im Jahr? Oder reicht ihm das vielleicht? Ist er traurig? Wünscht er sich mehr? Er hat auf meine zwei Briefe nicht geantwortet. Wie ist unsere Verbindung? Es hat doch auch einen Grund, warum ich mich nicht mehr melde, warum ich kein Bedürfnis habe zu Besuch zu fahren. Unsere Verbindung war von meiner Seite aus nie nah. Liegt vielleicht auch an der Entfernung. Liegt vielleicht auch an dem Menschen selbst, der er ist.
Okay, heute werde ich zurück rufen und ihm genau diese Fragen stellen. Ich stehe auf. Nehme das Telefon. Schwitze und zittere. Tippe vor Aufregung nur die halbe Nummer ein. (Wie in Träumen, wo ich nie die richtigen Tasten treffe) Geh dann doch erst mal auf Toilette. Atmen. Erneuter Versuch. Richtige Nummer. Opa ist am Telefon. Starte mit den üblichen Floskeln – danke für die Grüße und so – und gehe dann gleich in die Vollen.

„Ich wollte dir ein paar Fragen stellen, die uns betreffen und wünsche mir ehrliche, offene Antworten. Ich melde mich ja nicht so oft. Wie ist das für dich?“

Den genauen Wortlaut bekomme ich nicht mehr zusammen. Das ist nur angelehnt.

Er scheint sehr überrascht, über diese Frage und weicht erst mal aus. Ich stelle die Frage dann noch mal.
Er: „Ach, das ist in der ganzen Familie so. Wenn ich mich da nicht melde, dann kommt nichts zurück. Du bist ein Teil dieser Familie.“
Ich, schmunzelnd: „Du glaubst also, dass liegt in unseren Genen?“
Er, lachend: „Ja, genau.“
Ich: „Aber heißt das, du hast dich daran gewöhnt und es ist okay für dich?“
Er: „Jein. Jein. Ich würde es schon schön finden, wenn man mal zu Feiertagen oder zu meinem Geburtstag an mich denkt.“
Ich: „Weißt du, meine Verbindung zu dir ist nicht sehr nah. Früher auch schon nicht. Deshalb kommt bei mir nicht so oft das Bedürfnis mich zu melden. Nun habe ich gehört, dass du dir z.B. zum Geburtstag Anrufe wünschst. Das sind für mich so feste, vorgegebene Termine die mit einem Verpflichtungsgefühl verbunden sind. Ich möchte dich nicht anrufen, nur weil ich das Gefühl habe ich muss. Was aber nicht heißt, dass ich euch nicht leiden kann.“
Er: „Das verstehe ich.“ (eine für mich völlig unerwartete Antwort!)
Ich: „Ich möchte mich melden, wenn mir danach ist, wenn ich es will.“
Er: „Aber du brauchst Impulse. Sonst würdest du doch gar nicht anrufen?“
Ich: „Ja, das stimmt. Oder nein, ich hab auch vor ein paar Monaten mal von mir aus daran gedacht und mich dann nicht getraut. Warum auch immer.“
Er: „Du brauchst doch vor mir keine Angst haben.“
Ich, lachend: „Ja, das weiß ich doch. Ich hatte wohl Angst davor wie es wird, ob wir uns verstehen.“ (Erst nach dem Telefonat habe ich begriffen, dass ich Angst vor meinem eigenen Schuldgefühl hatte, welches dann spürbar geworden wäre mit einem Kontakt.)
Er: „Du, wenn ich was nicht verstehe, frage ich nach.“ (So war das zwar nicht gemeint, aber okay… :))
Ich: „Und auf meine Briefe hast du nicht geantwortet, weil Schreiben nicht dein Ding ist?“
Er: „Genau richtig.“

Dann sind wir in ein allgemeines Gespräch übergegangen, wie es uns so geht.
Ich sprach dann noch kurz mit meiner Stiefoma. Sie hatte von dem Telefonat vorher nichts mitbekommen und lud mich wieder zu einem Besuch ein. Ich wollte aus alter Gewohnheit erst irgendeinen Grund vorschieben, wie kein Geld oder so und sprach dann aber auch ihr gegenüber aus, das mein Bedürfnis nicht so stark ist, weil ich ihnen nicht so nah bin. Und auch sie, ich kann es kaum fassen, hat dafür Verständnis, begründet es mit der großen räumlichen Distanz, die schon immer da war.

Ich erzähle ihr noch von der anstehenden Reha und das dann meine Wohnung hier frei wäre, falls sie einen Stadturlaub machen wollen. Sie freut sich. Findet das eine gute Idee. Und so endet dieses Telefonat in guter Stimmung.

Ich bin so perplex, dass ich erst mal gar nichts fühle und sehr neben mir stehe. Wie kann es sein, dass man sich über Jahre und Jahrzehnte mit Gefühlen aller Art plagt und in einem einzigen Telefonat alles bereinigt wird? Wieso bekommt man als Kind nicht beigebracht, zwischenmenschliche Dinge anzusprechen und zu klären? Wieso bekommt man als Kind nicht beigebracht, dass es wichtiger ist auf sein Herz zu hören und die Gründe für sein Handeln zu verstehen und zu vertreten, als äußeren Regeln blind zu folgen. Ich wurde speziell in diesem Fall ganz offensichtig zu Schuldgefühlen erzogen. Das hätte gar nicht zwangsläufig so sein müssen.

Da kommt mir die Frage – ist jedes Schuldgefühl anerzogen? Hätten wir von Natur aus gar nicht solch ein Gefühl?