Bemühe dich nicht

Raus in den Tag und in die Sonne, fühle ich mich wie ein Maulwurf. Halb blind und kurzsichtig. Die Augen können die Helligkeit nicht ertragen, sind überfordert die Weite zu erfassen. Die viele Zeit in meinem eigenen dunklem Bau, in meinen inneren Räumen, macht das ‚normale‘ Sehen wohl überflüssig.

Meine Stimmung leidet. Wie mir schon vertraut, kämpfe ich erst dagegen an. Versuche den Blick ins Außen zu richten, bemühe mich meine Augen zu öffnen. Groll entsteht. So ist es nicht richtig. So sollte es nicht sein. Und überhaupt fühle ich mich heute gar nicht gut. Der Kopf drückt unangenehm, als hätte ich einen Kater. Meine Konzentration ist flüchtig und ich bin schnell erschöpft. Meine Augen schwer und wie schlaftrunken. Und irgendwie bin ich nicht da und fühle mich desorientiert. Da fällt es mir wieder ein. „Bemühe dich nicht“. Lass es so sein. Bemühe dich nicht in die Ferne zu schauen, bemühe dich nicht die Augen aufzubekommen. Bemühe dich nicht da zu sein. Suche nicht. Schau dir an, wie es gerade ist. Meine Stimmung hellt sich merklich auf und ich fühle mich wieder wohl in meiner Haut. Dann lauf ich halt mit gesenktem Blick. Dann bekomme ich halt nicht alles mit. Dann bin ich halt weg. Aus dieser Haltung nehme ich mehr wahr wie es gerade wirklich ist.

Ich ringe oft um Worte, um diese merkwürdige verzogene Art des Seins zu beschreiben. Heute wieder mal ein Versuch. Es macht mir kaum noch Angst. Neugier ist es eher, die mich es anschauen lässt.

Viele kleine Augenblicke die nicht zusammenfinden. Der Schwenk von einer Aufmerksamkeit zur nächsten zeigt mir, dass die Aufmerksamkeiten voneinander getrennt sind. Nicht an einem gemeinsamen Ort stattfinden. Ich schaue nach links in den Wald, erlebe ihn wie einen neuen Ort, an dem ich noch nie war. Ich schaue nach rechts in den Wald, das gleiche Gefühl. Und eine Lücke zwischen dem ersten Bild und dem Zweiten. Beide Bilder stehen nicht im Zusammenhang, werden nicht als Bilder von ein und demselben Ort erkannt. Als hätte man mich im Moment des Blickwechsels, an einem völlig anderen Ort positioniert. Ich liege auf der Wiese. Habe die Augen zu und bin in irgendeiner Gedankenwelt. Ich mache die Augen auf und auch hier das gleiche Gefühl, als wäre ich gerade aus einem Traum aufgewacht und muss neu schauen wo ich bin. Ich bleibe an einem Aushang stehen und lese ihn. Als ich mich löse und wieder um mich schaue, dass gleiche Gefühl. Ich war weg und bin wieder da. Dass das Lesen des Aushangs an dem gleichen Ort stattfindet, den ich jetzt sehe, kann nicht zusammengebracht werden.

Ziemlich schräg das Ganze.

Sehen

Seit dem Sommer 2011 fällt mir immer wieder auf, dass meine visuelle Wahrnehmung verändert ist. Es scheint die ganze Zeit so zu sein, doch es gibt Phasen wo ich das deutlicher wahrnehme und Phasen in denen es eher eine Randwahrnehmung bleibt. Wenn es sehr präsent ist, hat es  mich immer wieder aufs Neue verängstig und stark verunsichert. Ich habe mich gefragt, was hier vor sich geht? Warum das so ist? Was es bedeutet? Ob ich psychotisch bin? Ich habe Ärzten und Therapeuten davon erzählt. Ich war sogar beim Augenarzt, weil ich dachten (oder auch hoffte) es gäbe körperliche Ursachen. Doch es war alles im Normbereich. Mir wurde erklärt, dass in Belastungssituationen Menschen immer wieder davon berichteten, dass sie anders sähen und schnell erschöpfte Augen hätten. Damit versuchte ich mich zufrieden zu geben. Okay… also bin ich wohl belastet und das sehr oft. Was ja nicht ausschließt, dass sich das wieder verändern kann. Ich wünschte mich in das Früher, in die Normalität, zurück zum Gewohnten und ertrug solange die „Anomalität“.

In den letzten Monaten sammelte ich ein paar Erfahrungen mit dem Sehen. Mir fiel auf, dass weite, offene Plätze visuell nicht oder wenig erfassbar sind. Das heißt konkret in die Ferne und in die Breite zu schauen. Und wenn ich es doch versuchte, stellte sich ein Überreizungs- und Stressgefühl ein und der Wunsch den Ort oder Blick zu verlassen. Das gleiche Gefühl bekam ich, wenn ich mich während des Laufens, egal wo auf die vorbeiziehenden Bilder konzentrierte. Hinzu kam dann noch die Sorge um diese Veränderung, die ich als anormal erlebte und dadurch den inneren Stress noch erhöhte. Doch ich habe auch festgestellt, dass ich mich etwas entspannen konnte, wenn ich entweder meinen Blick vor mir auf dem Boden senkte oder die Augen schloss, mich in dichteren Räumen bewegte (z.B. Wald, Wohnblocks, Räume) oder einfach stehen blieb, wenn ich etwas anschaute.

So… und warum schreibe ich das jetzt alles hier? Weil ich heute eine ganz neue Erfahrung damit gemacht habe. Auf dem Weg nach Hause, von der Arbeit. Ich laufe ein Stückchen durch den Park, um den Kopf frei zu bekommen. Mir fallen dabei die schon vertrauten Dinge auf. Plötzlich, ganz seicht kann ich mich darauf einlassen was ich anders sehe – ohne Bewertung, ohne Ablehnung, ohne Angst, ohne Suche wie es denn „normal“ aussehen sollte. Und ich glaube zum ersten Mal erfasst zu haben, was denn eigentlich anders ist und dass das überhaupt nicht bedrohlich ist. Ich werde versuchen es zu beschreiben und habe dabei keine Ahnung, wie es bei euch ankommt, ob es banal wirkt oder außergewöhnlich, ob es vorstellbar ist oder auch nicht, ob es verrückt klingt oder langweilt oder oder oder.

Puh, das ist der schwierige Teil… Worte finden für das „Wie“. Wie hat es ausgesehen? Also, als ich aufgehört habe die Dinge, die Objekte, den Baum, die Autos, die Wolken usw. visuell erfassen zu wollen und meinen Blick davon losließ, ihn treiben ließ, vielleicht ähnlich wie bei diesen 3D-Bildern, war es auf einmal der Raum zwischen diesen Dingen, den ich sah. Es war nicht nur ein Sehen mit den Augen. Es fühlte sich an wie ein Sehen mit den Augen und durch den Körper. Der Raum war spürbar, „sichtbar“. Ich lief gerade die Straße entlang und konnte diesen gesamten Raum vor mir, bis zur nächsten Querstraße spüren. Keine Ahnung wie ich es erklären soll. Es war überhaupt nicht bedrohlich. Es hatte eher etwas von totaler physischer und psychischer Präsenz, die nicht an der Körpergrenze endete. Spannend, sehr spannend.