Wenn nichts mehr bliebe

Dienstags. Selbsthilfegruppe. Ich habe den Schlüsseldienst. Bereite alles vor. Der Türöffner übernimmt auch die Anfangsmoderation. Wieder viele neue Leute da. Wieder wenig aus dem vertrauten Stammteam. Ich leite souverän den Beginn. Erkläre den Ablauf und die Regeln. Fühle mich gut dabei. Wichtig.
Rückblende. Gruppenbesuch vor der Reha. Neue, fremde Personen dominieren die Gruppe. Ich bin nervös, ängstlich, unruhig. Meine Stimme zittert. Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ich fühle mich nicht sicher, nicht entspannt.
Was für ein Unterschied!

Der Austausch beginnt. Ich fühle mich viel bedeutsamer als sonst, fähiger als sonst. Übernehme wie automatisch durchgängig eine zurückhaltende gruppenregulierende Rolle. Fühle mich verantwortlich zu jedem Beitrag etwas zu sagen.

Es kommt zu einem Zwischenfall. Über eine halbe Stunde verspätet platzen Leute in die Gruppe, wo gerade jemand sehr offen erzählt und kurz vorm Weinen ist. Intuitiv, ohne nachzudenken verweise ich sie mit kräftigen, direkten Worten wieder nach draußen. Sie sollen zur zweiten Halbzeit kommen, da es jetzt nicht geht. Spätestens hier, bin ich von mir selbst beeindruckt. Was ist heute los? Was passiert hier? Woher kommt die Selbstsicherheit?
Ja klar, es ist niemand da mit dem ich mich abgleichen muss, da die neuen Leute sich natürlich noch nicht für die Einhaltung der Regeln verantwortlich fühlen, liegt es an mir sie durchzusetzen. Aber wie leicht mir das fällt. Wie natürlich ich mich in dieser Rolle fühle. Erstaunlich. Das war das letzte Mal so in meinem alten Beruf als Sozialpädagogin. Das ist fast 4 Jahre her. Ob da etwas zu mir zurück findet?

Ich selbst erzähle von mir. Sage vorher, das ich keine Rückmeldungen wünsche und nur loswerden will. Jemand fühlt sich doch aufgefordert, mir Ratschläge zu geben. Ich bedanke mich dafür und mache deutlich, dass ich hier keine Ratschläge brauche, sie nicht nötig sind, da ich mit der Situation umgehen kann. Das muss ich dann noch ein zweites Mal tun, bis er es verstanden hat. Auch hier, ich fühle mich gut dabei. Klar. Vielleicht auch überlegen? Ich brauche von niemandem etwas.

Zweite Halbzeit. Die Nachzügler sind dazugekommen. Ich entschuldige mich für meinen Ton und erkläre noch mal mein Verhalten. Sie haben Verständnis.

Ich spüre während des Austausches, dass die Leute beim Sprechen meistens im Blickkontakt zu mir sind. Sie scheinen mich als Leitung zu sehen. Heute gefällt mir das. Es tut mir gut. Ich bin wichtig. Gleichzeitig ist es unangenehm, da unsere Gruppe keine Leitung hat und ich auf der gleichen Ebene stehe, wie alle anderen. Auf die Regeln zu achten und wenn nötig auch mal in den Ablauf einzugreifen, ist Aufgabe der ganzen Gruppe und verteilt sich normalerweise auch gut, wenn genügen Leute aus dem Stammteam da sind. Heute ist das anders.

Als ich über mich spreche, taucht ein Gefühl von Sinnlosigkeit auf. Ja, ich fühle mich aktuell sinnlos. Für was bin ich da? Ich habe meinen roten Faden verloren.
Da wird es auf einmal ganz logisch, warum ich mich so wohl fühle, mit dem Schlüsseldienst und ihn auch weiterhin übernehmen will. Es ist eine Aufgabe. Es ist Verantwortung. Es gibt mir das Gefühl wichtig zu sein. Gebraucht zu werden.

Kann es sein, dass ich mich auch sinnlos fühle, weil ich keine Therapie mehr besuche (Urlaubspause)? Heftig, welch hohen Stellenwert das in meinem Leben hat.

Ständig denke ich, ich weiß über mich Bescheid. Dann fühle ich doch anders. Mache ich mir ständig etwas vor? Wie gut kenne ich mich eigentlich?

Was bleibt eigentlich von mir übrig, wenn im Außen nichts mehr ist? Habe ich wirklich etwas erreicht? Kann ich meinen Wert, meinen Sinn halten ohne Therapie, ohne Arbeit, ohne Gruppe, ohne Meditation und all die Dinge, die mich bestätigen, versichern, orientieren? Kann ich es aus mir selbst heraus? Sinnvoll fühlen?
Muss ich dazu jetzt schon ‚Nein‘ sagen, da das Gefühl der Sinnlosigkeit ja da ist? Oder ist es ein ‚Ja‘ und ‚Nein‘, ein ‚Teilweise‘ geworden?
Ich denke, es ist ein ‚Teilweise‘ geworden. Ich hoffe es.