Befreiung und Sinn

Es geht heute ganz einfach. (Liegt es am bevorstehenden Neumond heute Nacht?)

Vom PC werden ganze Ordner gelöscht. Klick, klick, klick. Kein Nachschauen, kein Nachlesen und in Erinnerungen haften. Alte Männergeschichten. Ewig lange E-Mailaustausch-Texte. Keine Ahnung warum ich mir sowas aufgehoben habe. Weg damit. Brauch ich nicht mehr.

Ich fühle mich seit Wochen in der Vorbereitung auf einen Neuanfang oder vielleicht ist es auch ein Übergang. Ich will aufräumen, alles sortieren und prüfen, was ich für mein neues Leben (was immer das auch heißen mag) brauche und was ich zurück lassen kann.

Ich fühle mich so, seit dem mir bewusst geworden ist, gefühlsmäßig bewusst geworden ist, dass meine Seelenaufgabe ist, mich hier und jetzt in der Verkörperung zu üben, darin zu üben, in jedem Moment da zu sein (wenn ich mal ausdrücken könnte, was genau ich damit meine o.O). Und ich fühle mich so, seit dem ich bei der Vorstellung, ich würde wohin ziehen, wo meine Bedürfnisse mehr erfüllt werden, einen halbtägigen Freudeausbruch erlebt habe.

Beides absolute Aha-Effekte und tiefgreifende, beruhigende Erlebnisse.

Ich weiß jetzt, warum ich aussortiere, sortiere, reinige. Alles hat einen neuen Sinnzusammenhang bekommen. (zumindest in der Zeit, wo ich nicht an mir zweifle und denke, dass ich mir nur wieder etwas Nettes in meiner Vorstellung zusammengebastelt habe – ich hab ja nichts zu verlieren und gute Gefühle sind immer willkommen 🙂 )

Fortschritte und Schritte

Die nebenan.de-Seite macht Spaß. Schön zu sehen, wie Menschen etwas suchen und beim Nachbarn finden oder Sachen verschenkt werden und einen Glücklichen finden. Ich habe jemandem ne Tischlampe für schmales Geld abgekauft. Endlich keine Dunkelheit mehr am Schreibtisch.


Unerwartet schöner Tag. Bin froh mich auf den Weg gemacht zu haben, trotz Hürden-Gedanken. Mal wieder Stadt von seiner schönen Seite gespürt. Menschen. Leben. Gerüche, Gerüche, Gerüche. Bunte Geschäfte. Endlich ein paar Bücher Second-Hand verkauft. Das steht schon länger als ein halbes Jahr auf meiner to-do-Liste. Sonnenschein. In der Nähe vom Büro von Fr. S.. Alles so vertraut, weil hier jahrelang zur Therapie gegangen. Lächeln. Lächeln. Das tat gut, dieser Tag.


Ich sehe so viele Fortschritte, anderes Umgehen, andere Verläufe. Bin tief Dankbar. Scheine alles richtig gemacht zu haben. Jetzt bloß nicht die Spur verlieren und immer schön locker bleiben. Nicht verkrampfen. Keinen neuen Wettkampf aufmachen. Alles ist jetzt erst einmal da, darf da sein. Darf da-sein-zulassen geübt werden. Nicht leicht mit ‚ich_bin_es_nicht_wert-/ ich_habe_es_nicht_verdient,_dass_jemand_für_mich_da_ist-Mustern im Kopf.

Ich mache das ganz gut, finde ich. Jeden Tag, ob oben, ob unten. Mit Angst und Freude und Trauer und Lähmung und Lebenslust.


Ich miste weiter aus. Viele, sehr viele Papiere – vom Studium, von der damaligen Arbeit. So viel Wissen. Die Zusatzausbildung. Wo ist das hin? Alles umsonst? Schade eigentlich. Aber ich glaube, fühle nicht, jemals wieder mit von Schizophrenie betroffenen Menschen arbeiten zu können/wollen. Psychologie interessiert mich weiterhin, stelle ich fest. Von allem kann ich mich nicht trennen. Lese alte Texte, die ich damals garantiert nicht verstanden habe. Heute die eigenen Erfahrungen im Gepäck, ergibt alles viel mehr Sinn.

Ein Text vom Prof. Dr. Christian Scharfetter über das Un-Gleichgewicht von Vulnerabilität (Verletzlichkeit) und Resilienz (Widerstandskraft) und die mögliche Folge der psychischen Dekompensation. Sehr spannend. Da taucht seine Idee zu einem Gesamtbehandlungsplan auf, wo er auch dem spirituellen Aspekt Beachtung schenkt (da er auch Spiritualität als Risikofaktor sieht). Ich glaube er bezieht sich hauptsächlich auf Schizophrenie-Betroffene, erwähnt aber auch die Borderline-Diagnose:

„Auch im religiös-spirituellen Bereich ist eine Kultur der Achtsamkeit, Vorsicht, behutsamen Bescheidenheit, die Erfahrungen kommen zu lassen, das Leitmotiv – entgegen dem Erzwingen-wollen „spirituellen Erwachens“, Erleuchtung, Ekstasen, Erlösung als Befreiung von der Alltagslast des Lebens, der doch niemand ausweichen kann.“

Sehe da meinen eigenen Entwicklungsprozess.

Vulnerable Gefährdungspunkte

Ein schönes Wort. So treffend für mich. Alles kann ganz ruhig und normal laufen und dann – Peng – sagt, tut jemand oder ich selbst etwas und berührt bei mir einen vulnerablen Gefährdungspunkt und plötzlich verändert sich über Stunden und Tage mein gesamtes Selbstgefühl. Ich bin jemand anderes und werde dann irgendwann wieder ‚ich‘.

Es spricht mich sehr an, wie er mit Fragen diese Vulnerabilität respektiert und anregt, ein Leben zu finden, in dem psychohygienischen Bedingungen der Selbstüberwachung und -steuerung, Bewältigungs- und Ausweichstrategien erlernt werden, um die Resilienz zu verbessern.

Was vermeiden, was suchen? Welches ist das rechte Maß von Sozialkontakt und Isolation? Welche Techniken des „Apspacens“ sind gefährlich? Worin liegt eine vermeidbare Überforderung, z.B. im Sozial- und Berufsbereich, in den Zielsetzungen, im intellektuellen Anspruch? Wie gefährlich sind für einen Patienten starke Liebesgefühle? Wie kann er lernen, damit umzugehen, darüber mit der Therapeutin zu sprechen und so auch in diesem Bereich sozialen Lernens an sich arbeiten? Welches Maß an Schonung ist nötig, welches schädlich, weil es zu Überbetreuung, Abkapselung in der Infirmität, Hospitalismus, Institutionalismus führt? Welche Medikamente in welcher Dosis bewirken bei einem Patienten Abschirmung, Beruhigung, Befreiung von Wahn und Halluzination – welche dämpfen ihn zu viel und treiben ihn in Inaktivität, Apathie?


Ein neues Gutachten vom Medizinischen Dienst der Agentur für Arbeit steht an. Ich bin gelassen. Habe der Frau im Jobcenter aus der Reha-Abteilung ganz offen meinen Prozess geschildert. Das ich fertig bin mit dem Leistungsgedanken. Das erst einmal etwas anderes dran ist. Sie hat mir doch tatsächlich fast gratuliert, sich mit mir gefreut, dass ich Druck loslassen kann und mich um mich kümmere. Da war ich echt baff.

Ich gehe davon aus, dass der Medizinische Dienst die Arbeitsunfähigkeit bestätigt. Ob für 6 Monate oder darüber hinaus, bleibt abzuwarten. Wenn darüber hinaus, steht mir der Papierkram für einen Antrag auf EU-Rente bevor. Fühle mich damit gerade auch gelassen. Es ist wie es ist. Ich muss mich nicht mehr rechtfertigen und beweisen. Bleibt abzuwarten, ob mir diese Haltung bewahrt bleibt, wenn ich vor den Gutachtern sitze.